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Eine kühne Reisende

Interview mit Gretta Louw

Han Yan

Ort: Brown’s Tea Bar, München
Zeit: 12. Juli 2016
Interviewerin (I): Yan Han
Künstlerin (K): Gretta Louw

Ich traf Gretta zum ersten Mal im Dezember 2015 in den Räumen für zeitgenössische Kunst „PLATFORM München“.  Sie hatte zusammen mit Helen Varley Jamieson eine Diskussionsrunde zum Thema Cyberperformance organisiert. Außerdem präsentierte bei dieser Gelegenheit Annie Abrahams, eine der Net Performance Pionierinnen, ihre Werke. An diesem Abend konnten wir nur kurz sprechen. Doch in der Folge befasste ich mich näher mit Grettas Arbeit. Sie konzentriert sich seit Langem auf die Cyber World und versucht, die dahinterstehenden psychologischen Mechanismen zu erforschen. Nachdem ich sie näher kennengelernt hatte, nannte ich sie für mich „Eine kühne Reisende“. Dieser Name sagt eine Menge aus – nicht nur über ihre persönlichen Erfahrungen, sondern auch über den Inhalt ihrer Kunst. 

Teil 1: Von der Psychologin zur Künstlerin

I: Warum hast Du an der University of Western Australia Psychologie studiert?
K: Ich habe mich immer für Menschen interessiert. Wird das Menschsein durch einen inneren Prozess definiert? Wie funktioniert er? Solche Fragen fesseln mich. 

I: Hat Dir das Studium gefallen?
K: Unbedingt! Ich habe im Laufe meines Studiums viel gelernt, zum Beispiel, kritisch zu denken, wie man ein Experiment entwirft, Forschungsmethoden und Ähnliches. 

I: Hast Du nach deinem Studium in diesem Bereich gearbeitet? 
K: Ja, ich habe ein Jahr lang als Krisenhelferin bei einer Organisation gearbeitet, die sich die Selbstmord-Prävention zur Aufgabe gemacht hat. 

I: Warum hast Du dann beschlossen, Künstlerin zu werden? 
K: Während meines früheren Jobs stellte ich mir die Frage, wie psychische Erkrankungen diagnostiziert werden und welchen Einfluss die Psychologie – so wie sie im Moment ausgeübt wird – auf unsere Gesellschaft hat. Ich bin viel gereist und habe in verschiedenen Ländern gelebt. Dabei war ich auf der Suche nach einem anderen Zugang: Ich wollte mich mit denselben Problemen auseinandersetzen, aber auf eine ganz besondere Art.

I: Hast Du diese Herausforderung als schwierig erlebt?
K: Ich komme aus einer Familie von Sportlern. Als Jugendliche nahm ich an Wettkämpfen im Schwimmen teil, daher konnte ich mir damals nicht vorstellen, dass ich einmal die Kunst zu meinem Beruf machen würde. Andererseits versuchte ich auch früher schon, mich künstlerisch auszudrücken. Ich besuchte zahlreiche Zeichen- und Öl-Mal-Kurse an verschiedenen Orten. Kunst war immer ein Teil meines Lebens. 

Diese „Reise“ zwischen zwei verschiedenen Sphären ist eine Erfahrung, die Gretta entscheidend geprägt hat. Während unseres zweistündigen Interviews war sie äußerst fokussiert und antwortete rasch auf meine Fragen. Sie hat eine feste Stimme und klare Gedanken. Möglicherweise sind das ihre Erfahrungen in Psychologie, die ihre Vorgehensweise stark beeinflussen, oder umgekehrt. 

Teil 2: Von Australien nach Deutschland

I: Deine Heimat befindet sich in einer anderen Hemisphäre. Wie ist es um die zeitgenössische Kunst in Australien bestellt? Spielt Eurozentrismus eine große Rolle? 
K: Der Mainstream leidet unter dem Eurozentrismus, aber gleichzeitig existieren verschiedenste Ansätze. So gibt es etwa Biennalen und Triennalen, deren Fokus auf asiatischer, australischer, indigener oder Kunst aus dem Pazifikraum liegt.

I: Wie kamst Du zu dem Entschluss, von Australien nach Deutschland zu ziehen? Was hat dieser Schritt für Dich bedeutet? 
K: Als ich anfing zu zeichnen, sah ich mich nicht als Malerin oder Künstlerin. Doch als ich 2007 nach Berlin kam, wurde mir klar, dass das, was ich in Australien gemacht hatte – meine Erfahrungen mit Psychologie – durchaus mit Kunst zu tun hatten. Sie stellten die perfekte Grundlage für meine Tätigkeit dar. Eine Künstlerin zu sein bedeutet nicht nur, die Welt bildlich darzustellen, sondern außerdem, sie als Forscherin und Aktivistin zu hinterfragen. Ich habe lange Zeit gebraucht, um mich selbst zu definieren. 

I: Magst Du mir ein wenig von deinem künstlerischen Werdegang in Berlin erzählen? 
K: Als ich 2007 dort ankam, waren elektronische Musik und zeitgenössische Kunst die dominierenden Themen in der Stadt. Damals malte ich noch, aber ich fühlte mich von meiner Umgebung nicht inspiriert. Daher organisierte ich mir ein billiges Studio im ehemaligen Niemandsland, wo die Berliner Mauer gestanden hatte. Ein Jahr lang produzierte ich ausschließlich Werke in schwarz-weiß, wobei ich innerhalb dieses Rahmens alle möglichen Materialien verwendete. Es genügte mir nicht, rein dekorative Werke zu schaffen. Deshalb verlegte ich mich auf schwarz-weiß Fotografien, die ich in Serie erschuf. Die natürliche Fortsetzung davon waren animierte GIFs. So wurde dieses Jahr, das ich alleine in meinem Studio (und in den Berliner Museen und Galerien) verbrachte, mein Kunststudium. 

I: Was hat Dich an der Berliner Kunstszene am meisten beeindruckt? 
K: Ich habe Berlin 2011 verlassen. Zu dieser Zeit waren kleine Projekträume in der Stadt äußerst beliebt. Dort fanden zahlreiche intellektuelle Aktivitäten statt. Das hat mir sehr gefallen. Die Arbeit im Kulturzentrum „Art Laboratory Berlin“ war ein wichtiger Wendepunkt für mich. 

I: Du hast dann drei Jahre in Mannheim gelebt. Wie hast du die künstlerische Stimmung dort erlebt? 
K: Obwohl die Stadt von Industrie dominiert wird, kenne ich dort einige Leute, die ein tiefes Verständnis für zeitgenössische Kunst haben, wie zum Beispiel Benedikt Stegmayer, den Kurator und Kunsthistoriker, der damals Leiter der Mannheimer Stadtgalerie war. Wir haben gemeinsam einige Projekte realisiert, 2014 erhielt ich den Heinrich Vetter Preis der Stadt Mannheim. Ich bin dankbar für all die Unterstützung, die mir diese Stadt zuteilwerden ließ. Diese drei Jahre waren sehr wichtig für meine Karriere. 

I: In einem Dokumentarfilm gibt Sally Mann jungen Leuten folgenden Rat: Verreist nicht so viel, bleibt zuhause und konzentriert euch auf eure Umgebung, dann werdet ihr große Künstler. Bist Du auch dieser Meinung? 
K: Ich denke, Sally Mann meint damit, dass Künstler heutzutage nicht nach New York oder Berlin ziehen müssen. Man kann als Künstler auch in einer kleinen Stadt leben, dort arbeiten und sich über Social Media ein Netzwerk aufbauen. Dadurch haben Künstler mehr Freiheiten. 

I: Und jetzt hast du dich in München niedergelassen. Welchen Eindruck hast Du von der Stadt in künstlerischer Hinsicht? 
K: Ich finde München ganz großartig. Ich kenne einige Medienkünstler hier in der Stadt und wir tauschen uns über unsere Ideen aus. Das bedeutet mir sehr viel. Es gibt fantastische Museen wie das Haus der Kunst, das Museum Brandhorst, die Sammlung Goetz und andere. Allerdings fehlen Projekträume wie es sie in Berlin gibt, die als kleine, professionelle Institutionen fungieren. 

Grettas Worte bringen mich dazu, darüber nachzudenken, welche kulturellen Einrichtungen wir in Zukunft brauchen werden. Gibt es dann noch Bedarf an großen Museen, die die Geschichte der Menschheit bewahren? Orhan Pamuk hat 2016 im Rahmen der Konferenz ICOM (International Council of Museums) die Idee veröffentlicht, dass wir künftig kleine Museen brauchen werden, die sich individuellen Geschichten widmen und nicht der nationalen Historie. [1] Grettas Ansichten zu kulturellen Institutionen decken sich in weiten Teilen mit denen von Pamuk. 

Als Reisende hat Gretta auf der ganzen Welt ihre Spuren hinterlassen. Besonders berühren mich ihre Fußspuren quer durch Deutschland von Osten nach Westen. Sie vermitteln einen Überblick über die zeitgenössische Kunst in diesem Land. Und – was noch wichtiger ist – sie können uns helfen, zu verstehen, dass sich nationale Kunstgeschichte aus den persönlichen Erfahrungen individueller Künstler zusammensetzt. 

Teil 3: Aus dem Virtuellen in die Realität. 

I: 2011 gab es im Berliner Art Laboratory eine Performance von Dir mit dem Titel Controlling_connectivity (Abb.1). Kannst Du von den Ursprüngen dieses Projekts erzählen? 
K: Ich fragte mich, wie sich unsere Kommunikation und unsere Beziehungen seit der Einführung von Facebook 2004 und vor allem mit seiner verstärkten Nutzung seit 2007 verändert haben. Es gab damals ja durchaus die Erwartungshaltung, dieses soziale Medium würde die Welt erneuern und diverse Abläufe, Regierungen und Bewegungen demokratischer machen. Tatsächlich aber basiert diese Plattform auf einem profitorientierten Sammeln von Daten, das nationalen Überwachungsbehörden in die Hände spielt. Meine erste Frage war daher, welche Auswirkungen diese neue Technologie auf uns alle hat. Studien zeigen, dass es neurologische Veränderungen unseres Gehirns zur Folge hat, wenn wir acht Stunden am Tag im Internet surfen. Aber alles, was man acht Stunden am Tag macht, sei es Schachspielen oder Autofahren, wird das Gehirn verändern – das ist eine Grundprämisse der Neuroplastizität. Daher entwickelte ich eine Art Selbstexperiment. Controlling_connectivity wurde zu einer zehntägigen Online-Performance. Ich wohnte in einer kleinen White Cube-Galerie ohne Tageslicht oder Besucher. In dieser Zeit kommunizierte ich nur über Social Media und war auf diesem Weg 24 Stunden am Tag erreichbar. Das war die Grundidee des Projekts. 

pic.1, installation view,  "Controlling_Connectivity", Art Laboratory Berlin. photo: Tim Deussen, Fotoscout
Abb.1, Ausstellungsansicht, Controlling_Connectivity, Art Laboratory Berlin. Foto: Tim Deussen, Fotoscout
"Materiality of the Internet", installation using found servers and cables, pins, nylon, 2015. Photo courtesy of Trommeter-Szabo Photography.
Abb.2, Ausstellungsansicht, Materiality of the Internet, Installation mit gefundenen Servern, Kabeln, Pins und Nylon, 2015. Foto: Trommeter-Szabo Photography

I: Hat die Performance Deine Erwartungen erfüllt? 
K: Eigentlich hatte ich gar keine klar definierten Erwartungen, sondern war offen für alles. Der ganze Prozess war äußerst interessant, denn es traten ganz verschiedene Menschen mit mir in Kontakt. Sie stellten viele Fragen, die meisten davon äußerst intelligent und herausfordernd. Aber natürlich gab es auch unangenehme Momente. Ich wollte wissen, wohin das alles führen würde. Lässt sich Kommunikation ins Unendliche ausdehnen? Wie fühlt sich diese Art von Dystopie an? Was, wenn sie endlos ist? 

I: Hast Du vor der Umsetzung des Experiments eine gewisse Zielgruppe definiert? 
K: Nein, überhaupt nicht. Ehrlich gesagt hatte ich mit mehr sexueller Belästigung gerechnet.

I: Tatsächlich?
K: Ja. Aber es war weniger als befürchtet. 

I: Würdest Du das als gutes Zeichen deuten? 
K: In diesem Zusammenhang war es eine positive Erfahrung. Seitdem habe ich eine bessere Meinung von der menschlichen Natur (lacht).  

I: Das ist äußerst interessant. Denn die meisten Deiner Werke kann man als Kritik am Internet und an den sozialen Medien sehen. Aber dieses Projekt stellt einen optimistischen Blick auf die menschliche Natur dar. Ein altes, berühmtes, chinesisches Lehrgedicht, der Drei-Zeichen-Klassiker, besagt: „Am Anfang ist der Mensch gut.“
K: Genau! Das Internet ist heutzutage so ein wichtiges Mittel der Recherche. Themen wie Sexismus, Rassismus und Intersektionalität werden in den etablierten Medien zu wenig behandelt oder diskutiert. Aber man kann intensive Recherchen auch online betreiben: über Social Media (vor allem Twitter) kann man jederzeit Menschen finden, um mit ihnen diese Themen zu diskutieren. Außerdem kann man ausführliche Kommentare lesen. Das ist wesentlich direkter und meistens auch zukunftsorientierter als das, was die Medien zu bieten haben. 

I: Das führt uns zu einem anderen Thema – der Zensur. Ein Beispiel: die Situation hat sich radikal geändert, seit der Einführung von WeChat 2011 in China. Informationen, die über dieses Medium veröffentlicht werden, verbreiten sich mit rasender Geschwindigkeit. Auf diese Weise ist es wesentlich schwieriger, die Wahrheit zu vertuschen, als in der Vergangenheit, in der strenge Zensur herrschte. 
K: In diesem Fall ist es gut, wenn Menschen die Obrigkeit herausfordern. Das ist eindeutig die positive Seite von Social Media. Man kann seine eigenen Gedanken formulieren und mit denen anderer verknüpfen. 

I: Jetzt würde ich gerne über The Cloud (Abb.3) sprechen. Im Kontext der klassischen Kunstgeschichte symbolisiert eine Wolke den Himmel. Sie ist eine Metapher für eine Utopie, die nicht wirklich existiert. 
K: Richtig. Ich wollte diese Hochglanzbilder dekonstruieren, die uns strategisch präsentiert werden, um uns vermeintlich glamouröse Produkte zu verkaufen. 

I: Denkst Du dabei an Marketingstrategien um das sogenannte Cloudcomputing?
K: Ja, genau. Dafür ist unser Smartphone ein gutes Beispiel. Was befindet sich im Inneren des Apparates und wie funktioniert es? Wo befinden sich meine Daten? Wie werden sie aufbewahrt und wohin werden sie übertragen? Solche allgemeinen Fragen sind für den durchschnittlichen Nutzer nicht zu beantworten. Aber man würde einer Bank keine Wertgegenstände anvertrauen, ohne zu wissen, in welchem Safe sie dort aufbewahrt werden. Doch Marketingstrategien wie Design, Präsentation und Vertrieb lassen all diese Gedanken hinter einer keimfreien Hochglanzfassade verschwinden. Die Präsentation von „Cloud“ oder Cyberspace als körperloser, immaterieller Welt – wie eine Wolke – verhindert, dass die Menschen hinterfragen, was wirklich mit ihren Daten passiert oder wer eigentlich ihr iPhone hergestellt hat. 

I: Du hältst das Internet nicht für eine virtuelle Welt? 
K: Nein, überhaupt nicht. Viele Künstler erforschen die Dinglichkeit des Internets, wie zum Beispiel Ben Mendelsohn in seinem Projekt Bundled, Buried and Behind Closed Doors – Gebündelt, begraben und hinter verschlossenen Türen oder Timo Arnall mit Internet Machine. Ihre Arbeiten enthüllen, dass das Internet durchaus greifbar und sichtbar ist. Das ist ein Aspekt. Aber es gibt auch noch eine andere, neue, realistische Sichtweise, die davon ausgeht, dass alles, was man wahrnehmen kann real ist. So gibt es zum Beispiel Studien zu Facebook-Kommentaren, die besagen, dass dadurch eine neurologische und chemische Veränderung im Gehirn des Nutzers ausgelöst wird. Unser Leben wird tatsächlich davon beeinflusst. Und so gesehen ist das Internet real und alle unsere Interaktionen darin sind es ebenfalls. 

I: Hattest Du ursprünglich geplant, für The Materiality of the Internet (Abb.2) einen Server zu installieren, aus dem zahlreiche Kabel quellen? War das eine ästhetische oder eher eine substantielle Entscheidung? 
K: Beides. Beim Erschaffen von Kunst gibt es naturgemäß ästhetische Elemente und Entscheidungen. In dieser Installation wollte ich zeigen, aus was sich dieses Medium zusammensetzt: es ist nicht körperlos oder abstrakt, sondern besteht aus einer Menge an Materialien und Ressourcen. Ich glaube, dass Menschen beim Anblick der greifbaren, physischen Körperlichkeit des Internets anfangen, den Einfluss von technologischem „Fortschritt“ neu zu überdenken. 

The Cloud', digital collage using found images marketing cloud computing, 2014, © Gretta Louw
Abb. 3, The Cloud, digital Collage mit gefundenen Bildern, 2014

I: The Cloud (Abb.3) ist eine Collage, die fast ausschließlich aus Werbeanzeigen für Cloudcomputing besteht. Wie ist diese Idee entstanden? 
K: Die Art, wie diese Strategie dargestellt wird, ist absurd und lächerlich. Mit meiner Arbeit möchte ich in das Thema einhaken, um sicherzustellen, dass gewisse Aspekte nicht länger übersehen werden. Der Betrachter kann innehalten und darüber nachdenken, welche Auswirkung diese Technologie auf uns alle hat. Heutzutage läuft alles intuitiv, beinahe automatisch ab; unsere Geräte, die grafische Benutzeroberfläche. Die Bilder, die die Werbung im Bezug auf Cloudcomputing verwendet – Cartoon-Wolken, leuchtende Server, die im Himmel schweben, weiße Hände, die über beleuchtete Displays streichen – stehen in krassem Gegensatz zu dem eigentlichen Produkt. Aus diesem Grund verwendete ich Abbildungen, die ich im Internet fand und vervielfältigte, überzeichnete und betonte sie, um diese Absurdität, an die wir uns so gewöhnt haben, sichtbar zu machen. 

I: Was ist Deiner Meinung nach der grundlegende Spirit des Internets? 
K: Wow, schwierige Frage. Ich denke, heutzutage versuchen all die wichtigen Drahtzieher ihre eigene Insel im Internet zu etablieren; ihre eigene Nation. Wir erleben eine geheime Schlacht der riesigen digitalen Imperien und müssen den kolonialistischen Aspekt dieser Eigentumsverhältnisse diskutieren – Apple ist hier wahrscheinlich der größte Übeltäter. Ein wichtiges Thema ist außerdem der massive Einfluss, den sie auf uns haben, indem sie unsere Online-Aktivitäten verfolgen, wie das zum Beispiel bei Facebook der Fall ist. Google dagegen versucht nicht nur das Netz zu besitzen, sondern außerdem Autos, Bücher, Reisen ins All. Damit wollen sie im Grunde ihren Einflussbereich derart vergrößern, dass sie die ganze Welt schlucken. All das sind Beispiele für kolonialistische Macht, den Aufbau von neuen „Nationen“ und das rasende Wachstum von neuen Supermächten. 

I: Ein neues Kolonialzeitalter. 
K: Ja, absolut – obwohl wir den Kolonialismus vergangener Zeiten auch noch nicht wirklich losgeworden sind.

I: Dabei geht es nur darum, möglichst Geld zu verdienen. Den Firmen ist es egal, was wirklich auf ihren Plattformen passiert. 
K: Genau. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie wir als Künstler und Aktivist die Gelegenheit nutzen können, um Dinge zu verändern.

I: Könntest Du das noch etwas konkretisieren?
K: Marc Garrett spricht über das Konzept der Kultur-Hacker. Das ist eine großartige Bezeichnung für ganz normale Menschen, die existierende Technologien und Plattformen für ganz neue Zwecke nutzen. Denn nicht jeder hat die Fähigkeiten oder die Mittel, um eine neue technologische Struktur zu entwickeln. Aber wir können uns bestehende Mechanismen und Technologien zu eigen machen. Dabei können wir neue Wege entdecken, wie wir die eigentliche Anwendung untergraben und an unsere eigenen Anforderungen anpassen können. Twitter ist dafür ein hervorragendes Beispiel. Wie jede andere Social Media Plattform wurde Twitter dafür entworfen, um von Nutzern erzeugte Inhalte rechtswidrig zu missbrauchen und damit Profit zu machen. Mit Letzterem war es (bisher) noch nicht so erfolgreich, aber die Plattform hat bei der Entwicklung von vielen der interessantesten politischen und philosophischen Bewegungen der letzten Zeit eine zentrale Rolle gespielt – vom Arabischen Frühling hin zu Occupy Wall Street, #Black lives matter und #SOSBlakAustralia.  

Unser Gespräch endete nach zwei Stunden, denn Gretta musste ihren Sohn vom Kindergarten abholen – ihre Verwandlung von der Künstlerin zur Mutter. Ich bin mir sicher, auch zu diesem Thema hätte sie einiges zu sagen. 

Wir leben in einer Zeit, in der das Kapital den Kunstmarkt manipuliert. Daher ist das Leben als Künstler heutzutage vielleicht schwieriger als je zuvor in der Geschichte. Aber Gretta kennt ihre Bestimmung. Ohne Zögern oder Zweifel ist sie eine Reisende zwischen verschiedenen Dimensionen. Sie hat einen erstaunlich klaren Einblick in unsere Gesellschaft und die menschliche Natur. Und das vermittelt auch ihr Werk. 


[1] Sheng, Wenjia (Übersetzerin, Herausgeberin), From Epic to Novel, Orhan Pamuk’s Manifesto of Future Museums, Tanchinese, July 09, 2016. Zitat wurde von der Autorin übersetzt.

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