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Eintausend Laub

Essay zu Herbar Digital

Han Yan

„The universe is represented in every one of its particles. Every thing in nature contains all the powers of nature. (…) The World globes itself in a drop of dew.“
Ralph Waldo Emerson, Compensation

In Barbara Herold & Florian Huths Werk Herbar Digital sind Blätter der Mikrokosmos des Universums. Gezackte Linien, kräftige Kurven, lebendige Kreise, dichte Netze: All diese simplen geometrischen Formen stellen die Pflanzen dar. Damit weisen sie nicht nur auf unsere Umgebung hin, sondern stehen vielmehr Modell für sie. Geht man noch einen Schritt weiter, ist die von uns erlebte Natur ein Mikrokosmos des Alls. 

Auffällig ist, dass sich Herbar Digital mit Aristoteles’ Beschaffenheit der Natur befasst, nämlich Stoff und Form. Zum einem sind Blätter und Blüte der physische Stoff der Natur (dies bezieht sich auf die Körperlichkeit der Natur) und zum anderen sind die vom Computer generierten Parameter, die als Bausteine des Werkes fungieren, als visueller Stoff der Natur zu betrachten. Aristoteles zufolge ist die erreichte Form also das natürliche Wesen. Das Grundschema aller Pflanzen in Herbar Digital lässt sich als Konstruktion der Natur erfassen. In diesem Fall sind es die Stofflichkeit einerseits und die Gestalt andererseits, in deren Zusammensetzung die vollständige Natur besteht.    

Wie also interpretiert man die Natur in der visuellen Welt? Diese Frage nimmt eine entscheidende Position in Barbaras künstlerischem Schaffen ein. In Void repräsentiert die ideale idyllische Landschaft die Natur, während in Herbar Digital das Herbarium die Natur nachvollzieht. Obwohl der natürliche Repräsentant unterschiedlich ist, bleibt die Interpretation dieselbe, nämlich eine Simulation. Auf dieser Ebene können die vom Computer generierten Naturmotive als von Gerhard Schulze erwähnte spielerische Kulissen angesehen werden, die die Wirklichkeit nicht verschleiern, sondern herstellen. 

Natürlich sind diese Kulissen als Inszenierung an die von Menschen erlebte kulturelle Umgebung gebunden. Das von Carl von Linné entwickelte System von Pflanzen wird als eine künstliche Klassifizierung betrachtet, in der sich die menschliche Sozialpraxis durch Pflanzenidentifikation ausprägt. In Herbar Digital entstehen 40 Herbarbelege aus einem Archiv von 800 gesammelten 3D-Modellen von Pflanzen. Diese subjektive Wahl und das dazu erzeugte Pseudo-Ordnungssystem deuten auf ein menschliches Vorgehen hin; und zwar reflektiert diese künstlerische Intervention die Überschneidung zwischen realen und virtuellen Erlebnissen unseres digitalen Zeitalters. In diesem Fall sind die spielerischen Kulissen die Inszenierung der Gegenwart. 

Die digitale Welt ist wie ein Spiegelraum, in dem wir denken, die ganze Welt zu sehen. In der Tat sehen wir jedoch lediglich uns selbst. In Herbar Digital behält jedes Exemplar den Zugang zur digitalen Quelle: Wer hat jenes pflanzliche 3D-Modell entworfen und wie ist sein farbiges Schema u. Ä. Die user-generierte Gestalt von Pflanzen hinterlässt ebenso eine starke persönliche Spur. Die Individualität des Menschen ist als wiederkehrender Gedanke in Barbara Herolds Werken zu finden. In Aura Sell-Out schlägt sich die Persönlichkeit in den individuellen Gesten der User nieder, während in Metric Ballet der Charakter der Tänzer durch die Improvisation auf begrenztem Raum erkennbar ist. Die digitalen Herbarbelege dienen hier als ein Durchgang, durch den die Vielfältigkeit der Menschen und der Natur deutlich wird. 

Es ist kein Zufall, dass sich Herbar Digital endgültig als eine druckgraphische (lithographische) Serie präsentiert. Dies kann auf Maria Sibylla Merians zwischen 1675 und 1680 erschienenes Neues Blumenbuch zurückgehen. Das druckgraphische Verfahren fokussiert auf die Form und Fläche von Pflanzen und lenkt unseren Blick auf die Interaktion zwischen Beobachtung, Gestaltung und ihrem Zweck. Die Besonderheit besteht darin, dass die verstreute leichte Farbigkeit in manchen Unikaten an Merians Kolorierung erinnert. Diese künstlerische Umsetzung verleiht den Pflanzen Lebendigkeit und Grazie. 

Auf den Punkt gebracht: Herbar Digital wird zu einem Ort, an dem Herold & Huth ihre Intention zeigen — Eintausend Laub wirkt als ein Behältnis unseres Wissens und eine Sammlung der Gedächtnisse unserer Zeit. 

Herbar Digital, graphic series by Barbara Herold & Florian Huth, lithography, mixed media, 40 parts, 43 x 33 cm, edition 5 + 2 AP, 2017
Herbar Digital, graphic series by Barbara Herold & Florian Huth, lithography, mixed media, 40 parts, 43 x 33 cm, edition 5 + 2 AP, 2017
"Herbal Digital", graphic series by Barbara Herold & Florian Huth, 2017 lithography, mixed media, 40 parts, 43 x 33 cm, edition 5 + 2 AP, © Barbara Herold, VG Bildkunst & Florian Huth, 2019
Ausstellungsansicht, Karin Wimmer Contemporary Art, 2017


veröffentlicht: „Barbara Herold, Dekade“, 2018, München

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